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Beitrag vom 07.02.2011
Pinar Selek – Istanbuler Gericht bestätigt Aufhebung des Freispruchs
Kristina Auer
Als linksgerichtete Schriftstellerin und Menschenrechtsaktivistin wurde Pinar Selek dem türkischen Staat ein Dorn im Auge. In einer groß angelegten Verschwörung wurde sie als Terroristin an den...
...Pranger gestellt. Doch obwohl sie bereits dreimal von allen Vorwürfen freigesprochen wurde, forderte die Staatsanwaltschaft Istanbul erneut eine lebenslange Haftstrafe für die im Exil lebende Selek.
Die Heinrich-Böll-Stiftung initiierte in Zusammenarbeit mit PEN-Vereinigung (P.E.N., Poets, Essayists, Novelists) am 07. Februar eine Pressekonferenz, um darüber zu informieren, wie Pinar Selek von deutscher Seite aus unterstützt werden kann.
"Ich habe lernen müssen, dass die Auseinandersetzung mit der türkischen Justiz ein anstrengender Marathon ist, der ewig zu dauern scheint", sagte Selek vor rund 30 JournalistInnen unterschiedlichster Medien.
"Gleichzeitig aber habe ich eine breite Welle von Solidarität sowohl in der Türkei als auch hier in Deutschland spüren können. Das gibt mir viel Kraft." | |
© Kristina Auer, AVIVA-Berlin |
Die 1971 geborene Pinar Selek studierte an der Mimar-Sinan-Universität Soziologie, wo sie im Jahr 1996 ihr Abschlussexamen ablegte. Bereits seit ihrem Studium befasste sie sich fortlaufend nicht nur in ihren
theoretischen Arbeiten sondern auch mit sozialem Engagement mit benachteiligten Randgruppen der Gesellschaft wie Straßenkindern, Sexarbeiterinnen, Homosexuellen sowie für ethnische Minderheiten wie KurdInnen und ArmenierInnen. Sie gehört zu den Gründerinnen des feministischen Netzwerks
Amargi, unterstützt zahlreiche NGOs und andere Gruppierungen, die sich dem Kampf für Frieden, Antimilitarismus und Menschenrechte widmen und gehört dem Amargi Feminist Theory Journal an. Des Weiteren hat Selek mehrere Publikationen veröffentlicht, zuletzt erschien im Jahr 2008 ihr Buch
"Sürüne Sürüne Erked Olmak" (Zum Mann gehätschelt, zum Mann gedrillt, Berlin, Orlanda Verlag 2010), in dem sie die Rolle des Militärs bei der Herausbildung männlicher Identitätscharakteristika untersuchte.
Seleks Probleme mit dem türkischen Justiz beginnen im Jahr 1997, als sie durch eine Studie über die KurdInnenfrage erstmals das Misstrauen der Polizei auf sich zieht: Selek, selbst
eine strikte Befürworterin der gewaltfreien Lösung von Konflikten, führt einige Interviews mit mehreren militanten Mitgliedern der kurdischen Arbeiterpartei PKK. Ihr Ziel ist es, den bewaffneten Konflikt zu analysieren und zu erklären, dabei interessiert sie vor allem das Verhältnis der PKK zur Gewalt.
Infolge dieser Untersuchungen und aufgrund ihres ungebrochenen Engagements für ausgegrenzte Minderheiten wird Pinar Selek sozusagen zum Prügelknaben erklärt. Sie soll als
Symbol und Abschreckung für alle diejenigen dienen, die es wagen, sich mit derartigen Themen auseinander zu setzen. Ihr Fall steht außerdem stellvertretend für viele weitere Fälle, die aufgrund des geringeren Bekanntheitsgrades der Beschuldigten keine öffentliche Aufmerksamkeit hervorrufen, so der Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, Ralf Fücks.
Der Fall Pinar Selek ist an Absurdität kaum zu übertreffen:
Sie wird ohne Beweise angeklagt, am 9. Juli 1998 auf dem Istanbuler Gewürzbasar eine Bombe gelegt zu haben und des weiteren in enger Verbindung mit der PKK zu stehen. Die Explosion auf dem Basar, bei der sieben Menschen zu Tode kamen und über 30 verletzt wurden, erweist sich später durch verschiedene Gutachten als durch eine undichte Gasflasche hervorgerufener, tragischer Unfall. Die einzige Anklage gegen Selek stützt sich auf die Zeugenaussage von Abdülmecit Öztürk. Seine Aussage, zusammen mit Pinar Selek die Bombe gezündet zu haben, widerrief er bei der Vernehmung durch das Gericht und erklärte, die Aussage unter schwerer Folter gemacht zu haben.
Selek selbst sitzt zweieinhalb Jahre lang in Untersuchungshaft und wird wiederholt gefoltert, zunächst, um die Namen der interviewten PKK-Mitglieder preiszugeben, dann, um ein Geständnis zu erzwingen. Nachdem sie im Jahr 2000 freigelassen wird, richten sich das Innenministerium und die Istanbuler Polizei in einem Schreiben an das Gericht und fordern die Wiederaufnahme des Falles, was eine
eklatante Verletzung der Unabhängigkeit des Gerichts darstellt. Dennoch wird Selek im Jahr 2006 nach erneuten Verhandlungen aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft legt Revision ein, der Freispruch wird aufgehoben. Im Jahr 2008 wird der Fall erneut aufgenommen, doch bereits nach einem Verhandlungstag ergeht ein neuer Freispruch.
Da die Staatsanwaltschaft auch gegen den zweiten Freispruch von Pinar Selek Revision eingelegt hat und die Revision durch den Großen Senat am Kassationsgerichtshof bestätigt wurde, wird der Fall nun am 9. Februar 2011
nach über zwölf Jahren an Verhandlungen, Gutachten und Vernehmungen zum dritten Mal wieder aufgenommen.
Pinar Selek, die mittlerweile seit über einem Jahr in Berlin lebt, ist Stipendiatin der Writers-In-Exile-Kampagne des PEN-Vereinigung und wird außerdem von der Heinrich-Böll-Stiftung unterstützt. Dank dieser Unterstützung und der Bekanntheit Seleks hat der Fall mittlerweile sowohl in der Türkei als auch weltweit und besonders in Europa große öffentliche Aufmerksamkeit erzeugt.
Das PEN-Zentrum hat sich kurz nach Bekanntwerden der Aufhebung des zweiten Freispruchs mit einem Appell an seine Mitglieder sowie an eine Reihe namhafter KünstlerInnen, WissenschaftlerInnen und PolitikerInnen gewandt und darum gebeten, die
Forderung nach sofortiger Einstellung des Verfahrens durch ihre Unterschrift zu unterstützen. An der Aktion haben sich bisher über 5.000 Persönlichkeiten, darunter Herta Müller, Judith Butler, Elfriede Jellinek und Fatih Akin, beteiligt. Des weiteren werden Christa Schuenke, Vize-Präsidentin der PEN-Vereinigung und Günther Wallraff als Beauftragter der Heinrich-Böll-Stiftung als zwei von insgesamt 36 BeobachterInnen aus 21. Verbänden und NGOs zum Gerichtstermin in Istanbul anreisen.
Pinar Selek selbst bleibt trotz aller Strapazen zuversichtlich hinsichtlich eines erfreulichen Ausgangs des Prozesses: "Ich bin recht optimistisch, dass wir gewinnen werden". Die öffentlichen Diskussionen um den Prozess seien letztendlich auch ein Symbol für einen bahnbrechenden Transformationsprozess in der türkischen Gesellschaft, der zu einer offeneren und freieren Türkei führen könne.
"Ich glaube, dass wir die symbolische Auseinandersetzung schon jetzt gewonnen haben," erläuterte sie weiter,
"denn die absurde Vorgehensweise des Staates haben wir für alle sichtbar entlarvt."Weitere Infos finden Sie unter:Aktion des Solidaritätskomitees "Pinar Selek" (Frankreich), eine Briefvorlage zum Versenden an türkische Staatsakteure.
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